Prolog
Liebe Kathrin
Ich bin gerade daran, den Salat für das Nachtessen zu waschen. Da läutet es an der Türe. Nanu! Ich erwarte niemanden. Ach, es muss einer der Fahrenden sein. Die wollen mir jedes Jahr Messer und Scheren schleifen, Besen oder selbst geflochtene Körbe verkaufen. Ich streife meine nassen Hände an der Schürze ab und gehe zur Türe.
Ein junger, blondgelockter Mann steht draussen. Er lächelt mir zu.
«Was wollen Sie?», frage ich ihn unwirsch, «Meine Messer sind alle noch scharf und von Ihren geflochtenen Körben haben wir bereits zu Genüge.»
Er lächelt noch immer. Er hat aussergewöhnlich blaue Augen. Nicht stahlblau, nicht ein wässriges Blau. Nein es ist das Blau eines Sommerhimmels am Nachmittag, wenn du geradewegs in den Himmel hinaufschaust. Ein unglaubliches Himmelsblau.
«Darf ich hereinkommen?»
Ich starre den Fremden an, mache unwillkürlich einen Schritt beiseite, er tritt ein, zieht seine silbernen Schuhe aus und stellt sie sorgsam auf das Schuhregal. Silberne Schuhe, als wären sie aus einem metallischen Material.
«Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?», ich fasse es nicht, was ich da tue. Ihn hereinlassen, ihn zu einem Kaffee einladen. Der Unbekannte gleitet wie schwebend hinter mir zur Küche hin und nimmt die Tassen aus dem Schrank, derweil ich den Wasserkocher mit Wasser fülle und danach drei Löffel Kaffee in den French Press gebe.
Der Fremde gleitet zum Esstisch, nimmt zwei der Sets, die ich über die Stuhllehne gelegt hatte, als ich den Tisch abwischte, gleitet zu mir zurück in die Küche, nimmt den Rahm aus dem Kühlschrank, ergreift mein Kaffeegewürz, gleitet zurück und setzt sich an den Tisch, just auf den Platz gegenüber meinem Stammplatz. Er scheint sich auszukennen.
Was tue ich nur? Bin ich überrumpelt? Paralysiert? Ganz von Sinnen? Ich schenke ihm Kaffee ein, dann mir, setze mich auf meinen Stuhl. Er lächelt mir unbeirrt weiter zu.
Er scheint nicht mehr so jung wie gerade eben. Ich entdecke graue Strähnchen in seinem zuvor noch makellos lockig blonden Haar.
«Ich bin Hermes», ergreift er das Wort, «und hole dich ab.»
Ich starre ihn an. Mittlerweile ist sein Haar grau und feine Fältchen haben sich um seine himmelblauen Augen gebildet und rings um den immerzu lächelnden Mund eingegraben.
Mir stockt das Herz. Das muss der Tod sein, der mich nun holt, durchfährt es mich. Ich habe es geahnt. Es ging mir nicht so rosig in letzter Zeit. Ich hatte ein Stechen in der Brust, Schmerzen beim Atmen, nachts war mir oft übel...
Das muss der Tod sein.
Hermes lächelt und lächelt. Lacht er mich aus? Er scheint nun wieder jünger, holder.
Ja, das muss der Tod sein. Aber jetzt schon? Ich hatte doch Pläne! Ich wollte doch...! Ich wollte... Mir stockt der Atem.
«Nur keine Angst», beschwichtigt mich Hermes, «Trink den Kaffee aus, dann gehen wir. Oder warte einen Moment!»
Er steht auf, geht zum Regal, wo wir Gin, Pastis, Grappa, den diabolisch süffigen Clément und weiss der Teufel noch alles aufbewahren, ergreift zielsicher eine Flasche mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, entnimmt dem Schrank ein kleines konisches Glas und schenkt mir ein.
Der Armagnac rinnt meine Kehle hinunter und wärmt mir die kribbeligen Eingeweide.
Ach Kathrin! Mir ist so weh! Ich wollte doch noch eine Geschichte schreiben! Mindestens! Mehr Zeit mit meinen Liebsten verbringen, auch mit dir! Wohin geht es bloss?
«Zieh dir warme Kleidung an», unterbricht Hermes meine düsteren Gedanken, «Wobei – ich habe da schon einiges für dich bereit.»
Und unvermittelt holt er eine flauschige Felljacke hervor, lederne Schuhe, die mit flauschigem Fell ausgekleidet sind, eine ebenso gefütterte Mütze. Er trinkt den Kaffee mit einem Zug leer und heisst mich mitzukommen.
Ich schaue durch die Fenster und erschaudere. War da nicht eben noch ein zarter Herbstnebel, mehr ein sanfter Dunst, welcher die Bäume und Sträucher weichzeichnete? War da nicht eben noch eine milchig fahle Sonne, die eine sanfte Wärme versprach? Jetzt schneit und hudelt und stürmt es. Ich ergreife die warmen Kleider und streife sie folgsam über. Hermes schlüpft in seine silbernen Schuhe. Erst jetzt gewahre ich, dass oberhalb seiner Knöchel goldene Flügelchen sitzen.
Draussen wartet eine Kutsche und ungeduldige Pferde. Mir stockt der Atem: Vier schwarze Pferde.
Im Hui geht es los.
Habe ich die Haustüre abgeschlossen?
– 1 –
Benjamin, du Guter. Es könnte so schön sein hier! Eine milde Herbstsonne taucht die hügelige Landschaft vor mir in ein warmes Licht.
Ich sitze mit meinem Nähkörbchen an meinem gewohnten Platz in der jetzt kurz geschnittenen Wiese vor dem Schloss. Hinter mir die rosenumrankte Mauer, welche den Palastgarten einfriedet. Habe ich dir je erzählt, dass hier siebenundzwanzig verschiedene wilde Rosenarten die alten Mauern bedecken? Ich muss immerzu an jenes Märchen denken, wo eine Jungfrau einhundert Jahre lang in einem verwunschenen, von Dornengestrüpp umrankten Schloss geschlafen hat. Bis der Prinz kam und sie küsste. Wenn doch...! Ach, wenn es doch so einfach wäre!
Die Rosen sind der ganze Stolz des alten Mannes, der sie hegt und pflegt, sich täglich um sie kümmert. Hatten wir auch einen Gärtner, der sich so viel Mühe gab?
Der alte Mann hat für mich zwei Sorten weiss blühende Sternenblumen gepflanzt, damit ich nicht in den Wald muss, um die weissen Blüten mühselig zu suchen. Beide, die Sternmiere und der Stern von Bethlehem blühen wider Erwarten noch immer. Magdalena, eine der Küchenmägde, pflückt mir die Blüten. Auch Samuel, der Stallknecht. Es ist ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen uns, ein geheimes Abkommen.
Ob unser Gärtner ebenfalls all die vielen Stauden mit Namen kannte? Ich kann mich kaum noch erinnern. Kaum an unsere Mutter, die schon lange von uns gegangen ist, kaum an das Schloss, in welchem wir zuletzt weilten, am ehesten an unseren Vater. Der Vater, den ich täglich ungeduldig erwartete, hoch oben, in dem kleinen Zimmerchen, am offenen Fenster der Dachgaube, von wo ich beinahe den ganzen Wald überschauen konnte. Das glaubte ich damals zumindest.
Ob da auch ein Gärtner waltete?
Der alte Mann hier macht sich einen Spass daraus, Beete mit Stauden einer einzigen Blütenfarbe anzupflanzen. Solche die früh im Jahr blühen, andere deren Blütezeit im Sommer liegt, und solche, die erst im Herbst ihre Blütenpracht entfalten.
Hier, an diesem sonnigen Platz vor den Rosen blühen derzeit rosarote Malven und Esparsetten, kriechender Hauhechel und wilder Thymian. Früher im Jahr haben mich die rosa Blüten der Heidenelken erfreut, danach diejenigen der satt purpurroten Jupiternelken. Dies sind nur jene Blütenstauden, deren Namen ich mir merken konnte.
Weiter gegen Osten schliesst ein Beet mit blauen Glockenblumen an, auch Teufelsabbisse gedeihen dort, die ich kaum von den Witwenblumen unterscheiden kann, hohe, sparrige Wegwarten und zuvorderst im Beet, beinahe unscheinbar, bedecken Kugelblumen mit ihren löffelförmigen Blättchen die Erde.
Ein gelb blühendes Beet gibt es nicht. Gelb, sagt der alte Mann, gelb gehört überall hin.
Einmal habe ich ihn schimpfen hören. «Jetzt ist sie schon wieder ausgerissen, diese Freche!», dann hat er mich bemerkt und herzlich gelacht. «Nehmt es mir alten Mann nicht übel. Manchmal spreche ich mit mir selbst. Die Färberkamille ist ausgerissen. Nicht wirklich. Ich habe einige die gelb blühenden Färberkamillen letztes Jahr in dieses Beet hier gesetzt, doch schaut nur: Der Standort hat ihnen offensichtlich nicht behagt. Hier blühen nur Mutterkräuter, Graslilien und die geduldigen Gänseblümchen. Doch dort», er hat auf einen der Wege gezeigt, welche kreuz und quer durch den riesigen Park des Palastes führen, «dort, zwischen den Schieferplatten wächst eine Färberkamille! Eine einzige! Jetzt müsste ich sie entfernen, damit die Wege gepflegt aussehen, so des Königs Anweisung», und nachdenklich, «Ich kann unmöglich die einzige Färberkamille weit und breit weg jäten.» Da hat er mich ein wenig verschmitzt angeschaut: «Ich sehe es dir an, ich soll sie retten!», und mit einem gespielten Seufzer, «Ihr habt ja recht. Ich entferne sie sorgfältig und setze sie in einen Topf. Den stelle ich vor Euer Fenster, damit Ihr Euch jeden Tag daran erfreuen könnt.» Das hat er dann getan.
Der alte Mann spricht mit mir, als würde ich ihm antworten können und nicht unentwegt schweigen. Er spricht mit mir, als kenne er meine Antworten. Das tut auch Berta, die freundliche Köchin, Magdalena, die Küchenmagd und Samuel, der Stallknecht. Sie erzählen mir oft Geschichten über das Schloss und den Hofstaat. Andere aber schauen mich scheel an oder ignorieren mich. Manche funkeln boshaft oder spucken sogar in meine Richtung. «Macht Euch nichts draus!», tröstet mich dann der alte Mann. Sie können nicht anders. Erfreut Euch an den schönen Dingen.»
Schön ist es hier, fürwahr. Diese liebliche, hügelige Landschaft! Mit den Wäldchen und Gebüschen entlang der Bäche! Da und dort blitzt das Blau eines kleinen Sees oder Weihers auf. Zwischen den Hügeln liegt Weideland, wo sich Schafe, Ziegen oder Rinder tummeln, und Äcker, die jetzt, zu dieser Jahreszeit, grösstenteils abgeerntet sind. Die Weinlese hat begonnen. Ich höre die Arbeiter und Arbeiterinnen in den Weinbergen singen.
Ich schreib dir jetzt nicht, wie bange mir ist. Das weisst du längst.
Ich sitze hier, umgeben von dieser Pracht und werde nächstens Stift und Papier auf die Seite legen und weitersticheln. Noch etwa zweihundert Blütenblättchen, und das fünfte Hemdchen ist bereit. Fünf von Sechsen! Ich werde mich an mein Versprechen halten, werde weiterhin unentwegt nähen. Nähen und schweigen. Und mich keinesfalls entmutigen lassen.
Ja, eines noch: Heute soll eine Märchenerzählerin eintreffen. Hermes hole sie ab, wurde mir gesagt. Alle scheinen aufgeregt und voller Vorfreude. Berta und die Mägde werkeln eifrig in der Küche, die Bediensteten schleppen Stühle und Tische in den Park. Der alte Mann wischt die Wege und bindet da und dort einen Trieb der Rosen zurück.
Magdalena hat mir viel von der Märchenerzählerin erzählt. Diese würde nicht einfach ein Märchen erzählen, nein, sie, die Bediensteten, die Königin, der König, die Prinzessinnen und Prinzen, sie alle würde eine Rolle darin spielen. Manchmal nähme das Märchen einen völlig anderen Verlauf als geplant. Es sei schade, dass ich stumm sei und nicht mitspielen können. Aber allein das Zuhören würde mich aufmuntern, es würde eine anregende Abwechslung von meiner Näharbeit sein.
Nie lasse ich mir einen Hauch meiner Gefühle anmerken. Ich lächle nicht, ich weine nicht. Magdalena scheint mitunter direkt in mich hineinzuschauen. Nein, sie sieht nicht alles. Das wäre schlimm. Doch bisweilen überrascht sie mich mit ihren Feststellungen über meine Empfindsamkeit.
Höre ich etwa das Gebimmel von Glöckchen, das Wiehern von Pferden? Ich sehe – nein vielmehr ich ahne – oder wünsche ich es mir? – Wie dem auch sei: Ich sehe in der Ferne eine Kutsche entlang der Felder und Äcker fahren. Könnte es sein, dass die Märchenerzählerin und Hermes angereist kommen? Hermes, welcher meinen Brief an dich mitnehmen wird?
Mir ist bange. Ich bebe, zittere. Doch, Brüderchen, diesmal weiss ich nicht, weshalb.
– 2 –
«Freust du dich?» Ich schaue Hermes verwirrt an, der es sich sichtlich vergnügt mir gegenüber auf dem braun glänzenden, ledernen Sitz der Kutsche bequem gemacht hat.
«Weshalb sollte ich mich freuen? Es ist doch viel zu früh?», wage ich zu erwidern.
«Zu früh?», er wirkt ein wenig konfus, «Wir kommen zum genau richtigen Zeitpunkt an. Es wird alles vorbereitet sein!»
«Ich hatte doch noch Pläne!», rufe ich leicht verzweifelt aus, «zumindest hätte ich das Kaffeegeschirr abräumen müssen.»
Hermes lächelt schalkhaft: «Sie macht sich Sorgen um das Kaffeegeschirr! Das Kaffeegeschirr! Haha! Der Kaffee in deiner Tasse wird noch warm sein, wenn wir zurückkehren!»
«Dann habe ich nur so eine Art Nah-Tod-Erlebnis», meine Stimme zittert.
Hermes lacht schallend auf. «Ja, ahnst du denn nicht, wohin wir fahren?»
«In den Hades? Die Zwischenwelt?»
«Um Himmels Willen, nein!»
«Wohin denn?»
Hermes schaut mich nachdenklich an. «So unrecht hast du nicht. Manchmal begleitete ich tatsächlich die eine oder andere Person zum Hades oder in eine der Zwischenwelten. Aber das ist schon lange her. Heutzutage bin ich mehr ein Bote oder Kurier. Jetzt gerade begleite ich dich.»
«Wohin denn?»
«Ja, wurdest du denn noch nie abgeholt?»
«Abgeholt?»
«Letztes Jahr, oder vorletztes, dein Spaziergang im Nebel, der Mann, der plötzlich auftauchte?», hilft er mir auf die Sprünge.
«Du bringst mich in die Märchenwelt? Zum Schloss? Wo blühende Rosen die Schlossmauer umranken und auch die Mauern des Palastes? Wo im Park ein wunderschöner, ein prächtiger Apfelbaum blüht und im Herbst unter der Last goldroter Äpfel beinahe ächzt? Wo der alte Mann die Wege wischt, oder die Rosen schneidet? Wo ich auf der hölzernen Bank unter dem Apfelbaum sitzend direkt durchs Schlosstor weit ins liebliche Land schauen werde? Das liebliche Land mit den sanften Hügeln und kleinen Wäldchen, Wiesen, Weiden und Äckern, wo dazwischen da und dort kleine Weiler liegen? Wo ich die Pferde in den Ställen ungeduldig scharren und schnauben höre oder auf der Weide wiehern? Wo Schwalben herumschwirren und hoch in den Lüften Milane kreisen. Wo Kinder im Schlosshof fangen oder verstecken spielen? Wo Berta und Magdalena die Küche befehligen und köstliche Speisen zubereiten?» Atemlos halte ich inne.
«Ich sehe, Ihr kennt die Gegend», lächelt Hermes verschmitzt und wechselt unvermittelt vom Du zu Ihr, wie es im Märchenland üblich ist.
«Ihr irrt Euch! Das Wetter stimmt nicht!», rufe ich erschrocken aus.
«Was soll nicht stimmen?»
«Im lieblichen Land, dort wo der Palast inmitten des wunderschönen Parkes gleich einer unbezwingbaren Burg steht, da ist es nie Winter. Es ist Frühling, Sommer oder Herbst. Ich halte mich unentwegt draussen auf, selten einmal in der Küche bei Berta. Ich sitze im Freien unter dem Apfelbaum oder mache einen Spaziergang um die Schlossmauern herum, wandle durch den ausgedehnten Park mit seinen lieblichen Wäldchen und dem verwunschen Seerosenteich. Mache Ausritte hoch zu Ross oder Ausfahrten mit der Kutsche. Doch nie, nie, nie hat es je im lieblichen Land geschneit.»
«Ihr vergesst, meine Liebe», und Hermes deutet tatsächlich eine Verbeugung an, «wir befinden uns auf dem Weg ins Märchenland. Noch sind wir nicht dort», er schaut durch die Fenster der Kutsche ins dichte Schneegestöber hinaus, «oder vielmehr: beinahe noch nicht.»
Kaum sind seine Worte verklungen, da klart es mit einem Mal auf. Die Sonne bricht durch, sodass die Schneekristalle aufleuchten und blitzen, dass ich einen kurzen Moment wie geblendet wegblicke. Wir fahren oder fuhren durch einen dichten, tief verschneiten Wald, die Äste der Bäume müssen beinahe die Kutsche berührt haben.
Jetzt aber breitet sich vor uns ein wunderschönes Land aus, es ist ein Déjà-vu. Mir stockt der Atem ob der Schönheit und Friedlichkeit dieser Landschaft, die da vor mir liegt. Schon meine ich in der Ferne die goldene Spitze des Schlossturm zu erblicken. Ich schliesse die Augen. Ich höre das Geläut einer Kirchenglocke in der Ferne. Das Gezwitscher von Schwalben und die schrillen Rufe der Mauersegler, die durch die Lüfte gleiten. Das Meckern von Schafen und Ziegen, das Gegacker von Hühnern und Gänsen.
Ich bin angekommen.
«Ich bringe Euch zum Schloss», unterbricht Hermes meine Gedanken, «Ihr könnt Euch übrigens der warmen Kleidung entledigen. Es ist jetzt angenehm mild draussen.»
«Ihr begleitet mich zum Schloss? Doch sagt, bleibt ihr auch dort?», frage ich ihn neugierig
Er blickt mich geradewegs an. «Ob ich bleibe?» Er scheint nachzudenken. «Vielleicht, vielleicht nicht.»
«Wart Ihr denn einmal dort?»
«Ihr meint im Schloss oder während eines Märchens?»
«Während eines Märchens. Also wart Ihr schon einmal dort...», ich zögere, «oder gar dabei?»
«Mag sein», weicht Hermes aus.
«Jetzt macht Ihr mich neugierig!»
«Ich war mal ein Stallknecht», lächelt Hermes schalkhaft, «einmal ein Prinz und ...»
«Und?»
«Einmal der König!»
«Und diesmal?»
«Ihr wisst bereits, welches Märchen Ihr erzählen werdet?»
Da überläuft es mich heiss und kalt.
«Nein, ich habe keine Ahnung. Ich bin noch nicht bereit», gebe ich kleinlaut und ein wenig verzweifelt zu.
«Beruhigt Euch!», mit diesen Worten zieht er aus einem Seitenfach der Kutsche ein Märchenbuch hervor, «Hier. Wir haben noch knapp eine Stunde Fahrt vor uns. Ihr habt folglich genügend Zeit, eines der Märchen auszuwählen» und drückt mir das Buch in die Hand.
– 3 –
«Seht nur, wir werden das Schloss bald erreichen! Ich erblicke bereits die blaue Fahne, die auf der goldenen Zinne flattert!», unterbricht mich Hermes bei meinem Lesen, Nachdenken, Abwägen, Grübeln.
Ich habe zwar einige der Märchen gelesen, doch kann ich mich partout nicht entscheiden, welches ich wählen soll. Das fällt mir jedes Jahr ungemein schwer. Zwei habe ich ins Auge gefasst. Gedankenverloren lege ich das Buch in den Schoss.
Mein Schoss! Mein Schoss ist von einer viel benutzten, weinroten, leicht fleckigen Schürze bedeckt. Es überläuft mich heiss und kalt vor Entsetzen.
«Seht doch. Ich trage keine angemessene Kleidung!», rufe ich Hermes verzweifelt zu, «Ich war doch daran, die Küche zu putzen und das Abendessen vorzubereiten. Seht doch meine abgewetzten Hosen, mein löchriges T-Shirt. Das ist meine Arbeitskleidung. So kann ich unmöglich ins Schloss, so kann ich unmöglich als Märchenerzählerin auftreten. Wir müssen sofort umkehren!»
Hermes lächelt mir schelmisch zu. «Ach, habt Ihre es also bemerkt! Schade, ich hätte gerne die entsetzten Gesichter gesehen!», und nachdenklich, den Kopf leicht schräg, mich gründlich musternd: «Nun, Ihr könntet ja als armes Weiblein um eine Anstellung am Hofe bitten. Oder gleich als Bettelweib um Almosen oder eine heisse Suppe bitten!»
«Ihr! Ihr!», mir fehlen die Worte.
«Euch fehlen die Worte», freut sich Hermes, «Nun denn, es war mir bereits in die Wiege gelegt, wie Ihr vielleicht wisst – oder eher nicht, ich sehe es Euch an – nun denn, ich liebe Schabernack. Ich soll sogar bereits als Neugeborener eine Herde Rinder... Doch das tut hier nichts zur Sache. Tröstet Euch!», mit einer angedeuteten Verbeugung, «Ich, in meiner erhabenen Weisheit, habe an Eure Kleidung gedacht! Selbstverständlich!» Mit diesen Worten zieht er aus einem der Seitenfächer der Kutsche ein Päckchen hervor und mit einem verschmitzten Lächeln sagt er: «Ich bitte Euch, öffnet es! Und erfreut euch ob meiner Grosszügigkeit!»
Ich schlage das Papier auf und – entfalte ein nachtblaues, seidenes Kleid, eine dazu passende dunkelrosa Schärpe und ebenso dunkelrosa Schuhe. Flache Ballerinas, wie ich sie stets trage.
«Nun zieht Euch schon um. Ich schaue auch brav weg! Und sagt mir inzwischen, welches Märchen Ihr gewählt habt.»
«Mm, keines», stottere ich.
«Keines?»
«Keines!»
«Ha! Da werdet Ihr recht in die Bredouille kommen! Doch schaut nur, das Schloss ist schon ganz nahe, ich erblicke bereits das Tor, dahinter die alten Palastmauern! Beeilt Euch! Legt auch dies hier um!» Hermes lässt eine goldene Kette in meine Hände gleiten. Ich schaue verdutzt zu ihm auf.
«Wartet, ich helfe Euch beim Verschluss. Ich sehe es Euch an. Eure Hände zittern. Ihr seid viel zu aufgeregt!»
Da hält die Kutsche bereits an. Nicht im Schlosshof, wie ich erwartet habe, sondern draussen vor dem Tor. Hermes öffnet die Türe, steigt aus und reicht mir galant die Hand.
«Gnädigste, darf ich Euch zu Eurem angestammten Platz unter dem Apfelbaum führen?»
Doch so weit kommen wir nicht. Kinder rennen herbei und rufen schon von Weitem: «Die Märchenerzählerin ist da!» Ich tätschle Köpfe, reiche Hände, küsse Wangen, verbeuge mich. Denn jetzt treffen sie alle ein und wollen mich begrüssen. Die Königin und der König, die Prinzessinnen und Prinzen, Berta, die gute Seele des Schlosses, Magdalena, ihre getreue Gehilfin, Stallknechte, Mägde, Diener. Der ganze Hofstaat eben.
«So lasst sie doch erst einmal in Ruhe ankommen!», greift Berta ein und zu mir gewandt: «Ihr müsst hungrig und durstig sein von der langen Reise! Wollt Ihr nicht in den Schlosshof kommen und Euch hinsetzen?»
«Nein, nein, ich bin jetzt lange gesessen!», wehre ich ihr Angebot freundlich ab.
Ein Knabe, der wie angewurzelt neben Berta steht, reicht mir ein Glas mit frischem Quellwasser und ein Küchlein. Dankbar nehme ich ihm beides ab, trinke das Glas in einem Zug aus und nehme einen Bissen des Gebäcks. Köstlich!
«Ihr habt recht, ich war durstig und hungrig bin ich auch!» erwidere ich mit einem Seufzer, «Wie habe ich nur vergessen können, wie angenehm hier die kleinsten Dinge sind! Ein kleiner Spaziergang würde mir jetzt bestimmt guttun! Nach der langen Reise möchte ich mich ein wenig bewegen.»
«Darf ich mit?», fragt da der Knabe.
«Lass die Märchenerzählerin zur Ruhe kommen», schilt Berta.
«Nein, nein. Das ist in Ordnung. Komm mein Junge, machen wir ein paar Schritte. Sag, wie heisst du?»
«Ich heisse Lio. Ich bin Tante Bertas Grossneffe», erklärt der Junge ernsthaft, «und morgen werde ich zwölf Jahre alt!»
«Sag, bist du hier zu Besuch?»
«Nein, ich studiere hier!» Lio streckt den Kopf stolz in die Höhe. Ich muss beinahe lachen.
«Du studierst?»
«Du musst wissen, mein Vater besitzt einen Gasthof. Diesen werde ich übernehmen, wenn ich erwachsen bin. Deshalb bin ich hier. Um zu lernen. Das Küchlein, welches du gegessen hast, habe ich ganz ohne Hilfe gebacken. Natürlich nicht nur eines. Sondern so fünfzig Stück. Zwei Bleche voll.»
«Das Gebäck ist tatsächlich sehr köstlich!»
«Ja, das weiss ich. Ich helfe auch im Küchengarten. Jetzt lerne ich alle Gewürze benennen, die wir in der Küche brauchen, auch wie sie schmecken und zu welchen Gerichten sie passen. Es sind alles auch Heilkräuter, hast du das gewusst?»
Plötzlich schlägt sich Lio erschrocken auf den Mund. «Ich habe dich geduzt!»
«Du darfst mich duzen! Ich bestehe sogar darauf. Es macht mich stolz, mit einem so grossartigen Bäcker per Du zu sein!»
«Das meinst du nicht im Ernst?», Lio beäugt mich kritisch.
«Ich meine es sehr, sehr ernst!»
«Wir auf dem Land, ich meine dort, wo ich aufgewachsen bin, sagen eben zu allen du. Nur wenn der König und sein Hofstaat bei uns vorbeischauen sollte – aber das geschieht eh nie – dann sollen wir ihn als «Eure Durchlaucht» begrüssen und einen höflichen Knicks machen.»
«Wenn du schon so viel weisst, sag mir, kennst du Hermes?»
«Hermes?», Lio lacht laut auf, «Hermes – den kennt doch jeder hier!», Lio schaut mich skeptisch an, «Bist du sicher, dass du eine allwissende Märchenerzählerin bist? Hermes geht hier nämlich ein uns aus!»
«Und weisst du, was er mir der Rinderherde angestellt hat, als er noch ganz klein war?»
««Ha! Das ist doch nur so eine Flunkerei, eine prahlerische Geschichte! Ein neugeborenes Kind kann doch nicht zu Fuss drauf los spazieren, dazu eine Rinderherde vor sich hertreiben und die Herde erst noch vor Apollon verstecken! Als mein kleines Schwesterchen auf die Welt kam, hat es ununterbrochen im Bettchen liegend geschlafen, ausser wenn meine Mutter es gestillt oder gewickelt hat. Eigentlich müsstest du doch diese Geschichte kennen. Du bist doch die Märchenerzählerin!» Ja, das fragt er nun schon zum zweiten Mal.
Wie ich dem Jungen so lauschend folge, sehe ich weiter vorne eine junge Frau im Gras sitzen. Sie hat die Augen geschlossen, hält ihr Gesicht zur Sonne hin.
«Wer ist diese Frau dort?», frage ich Lio.
«Anette. Aber das ist nicht ihr richtiger Name. Den kennt niemand. Sie ist stumm, weisst du. Irgendjemand hat ihr den Namen Anette gegeben. Sie ist wunderschön und hat den Prinzen verzaubert. Auf jeden Fall ist der Prinz jetzt weg und niemand weiss wohin.»
Anette, Anette, wer bist du nur, muss ich denken, während wir plaudernd zurückschlendern. Irgendetwas hat mich an der Geschichte, die mir Lio über diese stumme Frau erzählt hat, betroffen und gleichzeitig neugierig gemacht.
Es gäbe ein Bankett, ein grossartiges Abendessen, verrät mir Lio, wir müssten nun dringend zurückkehren. Die Tische seien bestimmt bereits alle gedeckt.
«Und Anette? Sollten wir sie nicht ebenfalls herbeirufen?»
«Die isst nie mit uns!»
«Ach, Unsinn! Heute Abend wird sie neben mir sitzen. Sie auf der einen und du auf der anderen Seite.»
Da guckt mich Lio entgeistert an.
«Nein, ich spasse nicht. Es ist mein voller Ernst», und mit einem Augenzwinkern, «Oder hast du vergessen, dass Märchenerzählerinnen zaubern können?»
– 4 –
Benjamin, mein Liebster Bruder. Heute Abend scheinen sich die Ereignisse zu überstürzen. Meine Hände zittern. Ich hoffe, dass ich dir trotzdem alles aufschreiben und schildern kann.
Berta holte mich am späten Nachmittag aus der Küche, wo ich mich bereits bequem auf der Bank niedergelassen hatte und nähte, und führte mich in den Park beim grossen Apfelbaum, wo Tische für ein umfangreiches Nachtmahl gedeckt waren, und hat mich neben die Märchenerzählerin gesetzt. Mir war etwas mulmig zumute.
Nach und nach kamen sie alle zu Tisch und setzten sich zu uns. Der König und die Königin, die Prinzessinnen und die Prinzen, Freunde und Verwandte, selbst einige Bedienstete, so auch der alte Mann, von dem ich dir bereits erzählt habe. Ich entdeckte Hermes und Lio, den wackeren Küchenjungen, der gleich mir neben der Märchenerzählerin sass. Die Küchenmägde und Knechte eilten hin und her und tischten Leckerbissen auf, wie ich sie wohl noch nie gekostet hatte. Zuerst gab es Häppchen und pikante Küchlein, dazu einen leichten Weisswein. Ich kostete das Gebäck, nippte am Wein und hörte den Gesprächen zu.
Ich bin es nicht mehr gewohnt inmitten so vieler Leute zu weilen und gar zu speisen. Ich nehme meine Mahlzeiten ja meist in der Küche zu mir, in Anwesenheit von Berta, Magdalena und den wenigen Küchenmägden. Und Lio natürlich, wenn er denn nicht mit den anderen Jungen herumstrolcht. Ich sass also am Tisch und es war mir unwohl. Ich fühlte mich von allen Seiten beobachtet, begutachtet, als würde ich vor einem Gericht stehen, wo ein Urteil über mich gefällt würde.
Doch die Märchenerzählerin nickte mir freundlich zu und schaute mich einen kurzen Augenblick an. Es war, als ob sie tief in meine Seele sehen, und alles von mir wissen würde. Ich erschrak. Da gewahrte ich, dass auch sie erschauderte. Sie fasste sich schnell und flüsterte mir zu: «Ich werde mir etwas einfallen lassen!» Das geschah so geschwind, dass ich mir jetzt, da ich dir alles niederschreibe, unsicher bin, ob es so geschehen ist oder ich es mir allenfalls nur einbilde.
Die Prinzen und Prinzessinnen neckten sich unentwegt. Offenbar wollten sie alle eine spezielle Rolle im Märchen ergattern.
«Ich will ein richtiges Abenteuer erleben und ein Held sein. Auf einen hohen Berg steigen, einen Glasberg, wo eine verzauberte Prinzessin hoch oben in einem verzauberten Schloss weilt, auf mich wartet und ich sie erlöse», so Nahuel, der älteste der Prinzen. Der älteste ist er nicht, du weisst es.
«Ich möchte einen verborgenen Schatz heben und unglaublich reich und berühmt werden, so dass alle Prinzessinnen in allen Ländern mich heiraten wollen», so Miro, der Zweitälteste, «Und du?», er beäugte Atari, seinen jüngeren Bruder, «Hast du dir etwas ausgedacht?» Doch er wartete dessen Antwort nicht ab, und eiferte stattdessen mit seinem älteren Bruder weiter, was sie alles erleben würden. Prinzessinnen aus dem Rachen eines Meeresungeheuers oder eines feuerspeienden Drachens retten, beispielsweise.
«Bäh! Solche Geschichten gibt es gar nicht, ihr Aufschneider!», neckte sie Dana, eine der Prinzessinnen.
«Und Ihr, meine lieber Gatte», fragte da die Königin den König, «habt ihr Pläne, welche Rolle Ihr dieses Jahr im Märchen gerne innehaben würdet?»
Es war still geworden. Alle horchten auf, wollten keinesfalls die Antwort des Königs verpassen. Dieser erhob sich, nahm sein Glas, so als wollte er etwas gebieten oder mitteilen.
Just in diesem Moment rief ein kleines Kind: «Die Weisen Frauen!»
Es wurde augenblicklich mucksmäuschenstill. Als ich aufschaute, trippelten drei hutzelige, alte Weibchen durchs Schlosstor zu uns hin. Die Weiblein hatten merkwürdige Gebrechen. Die eine hatte eine unförmig grosse Unterlippe, die andere einen überbreiten Daumen und die dritte einen merkwürdig verunstalteten rechten Fuss.
Sie wurden ehrerbietig empfangen. Sogar der König stand auf, ging auf die Weiblein zu, verneigte sich vor den dreien und hiess sie willkommen. Geschwind wurden drei Stühle gebracht und drei Kissen, damit sie bequem sitzen konnten. Geschwind wurde ihnen das Hauptgericht geschöpft, Wein eingegossen. Ich wunderte mich, dass die drei keinen Ton sagten. Weder guten Abend noch Danke noch irgendetwas. Sie nickten dem König und den Bediensteten lediglich höflich zu und schwiegen. Sie schwiegen wie ich. Aber niemand schaute sie scheel an. Im Gegenteil. Offensichtlich wurden die Weiblein trotz ihrer Hässlichkeit und ihres ungewohnten Benehmens hochgeachtet und verehrt.
«Das sind die drei Weisen Frauen. Sie erscheinen immer, wenn es brenzlig wird», erklärte mir die Märchenerzählerin leise.
Man hat mich ja gewarnt. Wirklichkeit und Märchen würden sich oft vermischen, ununterscheidbar sein. Es sei verwirrlich. Manchmal wüsste selbst die Märchenerzählerin nicht, in welcher der Welten sie sich bewege. Ich habe solche Schilderungen mit einem inneren Schmunzeln abgetan. Doch nun wusste ich tatsächlich nicht, ob ich jetzt einem Schauspiel beiwohnte oder nicht.
Da wandte sich die Königin erneut an ihren Gemahl und sprach: «Wolltet Ihr uns nicht eben etwas Wichtiges verkünden?»
Der König räusperte sich, ich merkte, wie er innerlich mit sich rang. Weshalb nur? War es die Anwesenheit der drei Weisen Frauen? Dann gab er sich einen Ruck. Er erhob erneut sein Glas, als wollte er einen Trinkspruch anbringen, zögerte einen kurzen Moment und sprach dann gebieterisch: « Wie Ihr hier alle wisst, habe ich drei Söhne.» Ein Hüsteln da und dort. «Ich weiss jedoch nicht, welcher von meinen Söhnen der geeignetste ist, mein Königreich dereinst zu erben.»
Betroffenes Schweigen allenthalben.
«Nun denn. Derjenige soll mein Reich erhalten, der mir den schönsten Teppich bringt!»
Totenstille.
Und mit einem Mal begannen alle Anwesenden gleichzeitig zu sprechen. Zuerst leise, ich hörte ein Flüstern, Raunen, Gemurmel, dazwischen verhaltenes Gelächter, dann wurde das Gerede lauter und heftiger. Ich vernahm Sätze wie: «Ist der König denn von Sinnen!», «Ein Teppich? Das kann nicht sein Ernst sein!», «Sein Ältester ist verschollen, hat er das denn ganz vergessen?»
Zuletzt hörte ich die Stimme der empörten Königin: «Alle meine Söhne sollen das Reich erben und gemeinsam regieren!»
Mir ward himmelangst.
Da erhob sich die eine der drei alten Weiblein. Augenblicklich wurde es still.
«Der König hat weise gesprochen. Es soll so geschehen: Ich werde drei Federn auf der Wiese vor den Schlossmauern in die Lüfte blasen, diese sollen die Richtung zeigen, welche die Prinzen auf ihrer Suche zu gehen haben. Eine Feder für den Ältesten hier», sie nickte Nahuel zu, «die zweite für den Zweitältesten», sie blickte zu Miro, «und die dritte Feder für den Jüngsten», sie musterte dabei Atari. «Jeder von Euch wird sich in jener Richtung auf den Weg machen, in welcher seine Feder fliegt. So wird es geschehen und Klarheit bringen.» Mit diesen Worten setzte sie sich, trank einen Schluck des tiefroten Weins, zog drei Federn aus einer der Taschen ihres Gewandes, stand auf und sprach: «So lasst uns nun hinaus gehen.»
Ich sah es den Gesichtern an, lieber Bruder. Alle waren erstaunt und fassungslos.
Nur Hermes, der uns gegenübersass, zwinkerte der Märchenerzählerin schelmisch zu, was ich nicht verstand.
Mein lieber Bruder. Glaube mir: wenn ich hätte reden dürfen, wäre ich jetzt sprachlos geworden.
Aber das, was danach geschah, war um einiges unglaublicher.
– 5 –
Liebe Kathrin. Kaum hat jenes alte, weise Weiblein mit der dicken Lippe ihre Anweisung beendet, sich erhoben, und ist, gefolgt von ihren beiden Begleiterinnen, geradewegs zum Tor hin geschritten, da bricht ein Tumult sondergleichen aus. Alle erheben sich, um der Weisen zu folgen, um das bizarre Geschehen, das gleich da draussen vor den Schlossmauern stattfinden wird, ja nicht zu verpassen.
Ich aber sitze wie erschlagen am Tisch. Mir fehlen die Worte. Was soeben geschehen ist, dass der König sein Reich vererben möchte, dazu seine Söhne mit Hilfe von Federn in verschiedene Richtungen schickt, um demjenigen, welcher ihm den schönsten Teppich nach Hause bringt, das Reich zu vererben, ja das hätte mein Märchen sein sollen. Ich betone meines. Eines jener beiden, die ich in der Kutsche von Hermes ausgewählt hatte, jedoch noch nicht fix wusste, welches ich dann erzählen würde.
Hermes, der mir gegenübersitzt, muss mir meine Verblüffung angemerkt haben. Jedenfalls zwinkert er mir vergnügt zu: «Gut gewählt! Lasst uns ebenfalls aufbrechen und dem Spektakel beiwohnen.»
Da unterbricht ihn der alte Mann: «Nur langsam. Wir müssen nirgendwo hin. Wisst Ihr denn nicht, dass die Märchenerzählerin uns hier und jetzt berichten kann, was sich dort draussen vor den Toren des Schlosses abspielt? Ich jedenfalls möchte ihr lauschen und derweil noch ein Stück dieser vorzüglichen Pavlova geniessen und schwärmerisch: «Dieser erlesene Portwein muss hervorragend dazu passen».
Mit diesen Worten schneidet er fünf Stücke der überwältigend hohen Meringue-Torte ab, welche mit geschlagener Sahne und Waldbeeren gekrönt ist. Er hievt ein Stück auf einen der leeren Teller, die auf dem Tisch bereit liegen, und stellt ihn vor mich hin, danach bedient er Lio, die stumme Anette und zuletzt Hermes. Desgleichen schenkt er uns rubinroten Portwein ein. Ja, auch Lio. Es wäre wahrlich unhöflich gewesen, derart aufs vortrefflichste bewirtet, den Tisch zu verlassen.
Ich zögere, steche mit der Gabel in meine Pavlova und koste sie. Herrlich! Der Meringue ist aussen knackig und innen leicht feucht, dazu der erfrischend kühle Rahm und die Süsse der wilden Beeren. Ein Gedicht!
«So spannt uns nicht auf die Folter!», schilt mich der ungeduldige Hermes, «Was ereignet sich da draussen?»
«Nun denn», nehme ich den Faden erneut auf, «Es sind jetzt alle draussen vor dem Tor, auf dem Weg zwischen den Wiesen und auf den Wiesen selbst. Der ganze Hofstaat ist dort versammelt, will mir scheinen. Es herrscht ein gewaltiges Gedränge. Die drei Weisen Frauen sind darin völlig umzingelt. Zumindest kann ich sie nicht mehr sehen.
Da spricht der König ein Machtwort. “Zurück! Tretet alle zurück! Noch ein wenig. Ja, gut so. Noch einmal zehn Schritte. Jetzt genügt's.“
Die Weisen Frauen stehen jetzt zusammen mit den drei Prinzen inmitten der Menge. Die eine, Ihr wisst schon, diejenige mit der dicken Lippe, also diese nimmt die erste Feder, hebt sie vor ihr Gesicht auf Augenhöhe, murmelt etwas vor sich hin – es muss gewiss ein Zauberspruch sein – lässt die Feder los und bläst sie gleichzeitig kräftig an. Und schon saust sie leichthin aber schwungvoll davon, als würde ein unsichtbarer Wind sie tragen, nach Osten hin.
Ein leises Raunen und Wispern.
“Dahin musst du gehen, Nahuel’“, spricht die Weise.
Sie wiederholt die Prozedur. Die zweite Feder schwankt und flattert ein wenig, dann reisst ein Wind sie mit sich, nach Westen hin.
Erneut ein allgemeines Raunen und Wispern.
“Das ist deine Richtung, in welcher du suchen musst, Miro“, spricht die Weise.
Und zum dritten Mal bläst sie eine Feder an. Doch diesmal fliegt diese nirgendwo hin. Sie gaukelt hin und her und sinkt zuletzt zu Boden. Mitten in der Wiese vor dem Schloss.
“Hier musst du suchen, Atari, diesen Weg hat das Schicksal für dich bestimmt.“
Es wird geflüstert, gewispert, mit leiser Stimme gesprochen. Dann wird das Gerede lauter und forscher. Gelächter mischt sich ein.
“Na, dann gutes Gelingen, Kleiner!“, hänselt Nahuel und stiefelt davon.
“Und nimm dich in Acht vor den Fröschen und Kröten, die nächtens hier herumhopsen!“, witzelt Miro und marschiert von dannen.
Atari setzt sich zu Boden und seufzt.
Da erhebt der König erneut seine Stimme: “Wir wollen alle wieder in den Schlosshof gehen und die Nachspeise zu uns nehmen.“
Ihr seht: Jetzt trudeln sie alle herein. Und setzen sich.» Ich halte inne. Es gibt nun nichts mehr zu erzählen.
«Ihr müsst diese Torte hier versuchen. Diese habe ich selbst nach einem Rezept meiner Nonna zubereitet», unterbricht Lio meine Gedanken. Auf einer Keramikplatte liegt ein dunkler, flacher Kuchen, der angenehm duftet. Eifrig schneidet er mir ein Stück ab und lässt es auf meinen Teller gleiten.
Ich nehme eine Gabel voll. Welch ein Gegensatz zur Pavlova! Dieser Kuchen hier ist körnig, kernig und fruchtig zugleich und duftet verführerisch nach exotischen Gewürzen.
«Hm. Lass mich raten. Mandeln?» Lio nickt stolz.
«Datteln, Orangen, Zitronen?» Wiederum ein frohes Nicken.
«Muskatnuss, Zimt, Nelken, Pfeffer?»
«Beinahe erraten! Du hast die Haselnüsse, Pinienkerne, kandierte Kirschen und das Kardamom vergessen. Und der Kuchen ist nur mit Honig und süssem Wein gesüsst», schmunzelt Lio hochgemut.
«Hat die Torte einen Namen?»
«Wir nennen ihn Panforte. Eigentlich ist es ein Gebäck für den Winter.
«Ich bin beeindruckt, lieber Lio. Du wirst bestimmt ein ausgezeichneter Koch. Ein ausgezeichneter Konditor bist du bereits!»
«Könnt Ihr nun endlich weitererzählen? Dazu seid Ihr ja da, oder etwa nicht?», spottet Hermes, «Oder sollte ich euch vergebens hierher geleitet haben?»
Ich blicke auf, liebe Kathrin. Es ist wie in früheren Zeiten. Wie letztes Jahr, wie vorletztes Jahr. Es scheint mir, wie immer schon. Es sitzen alle um mich herum. Gespannt, wartend, dass ich eine Geschichte erzähle. Oder ist es vielleicht gar kein Märchen, dass da geschieht und ich erzähle? Hat der König seine Söhne tatsächlich auf die Suche nach einem Teppich geschickt?
«Au ja!», ruft da Lahja, die jüngste der Prinzessinnen, «Erzählt, wie es meinen Brüdern ergeht!»
– 6 –
Es war ein verrückter Abend, lieber Benjamin. Es dämmerte bereits, doch der Himmel war im Osten rotglühend, als würde er brennen. So blieb es taghell. Hermes beugte sich vor und erklärte mir mit gedämpfter Stimme, dass es bestimmte Winde gäbe, die direkt von der Sonne herbrausen und den Himmel rot färben würden. Dies geschehe selten. Alle elf Jahre etwa.
Dann lachte er laut auf: «Habt Ihr das etwa geglaubt? Ich hoffe nicht. Nein, Nein! Der rote Himmel – das war mein heimlicher Vater. Zeus. Er schleudert gerne Blitze zu der Erde Niederungen. Manchmal zum Spass und manchmal, wenn er zornig oder verärgert ist. Haha. Aber keine Angst. Seine Blitze erleuchten lediglich den Himmel. Er will Aufmerksamkeit erregen, weiter nichts.»
Hermes schaute mich neckisch an, ich war verwirrt und wusste nicht, welche seiner beiden Erklärungen nun die wahre sein könnte.
Also war es heller Abend mit einem leuchtenden Rot im Osten. Alle waren um die Märchenerzählerin herum versammelt. Der alte Mann schenkte ihr einen Armagnac ein und Berta stellte ihr ein Glas mit frischem Quellwasser hin.
«Nun denn», nahm die Märchenerzählerin den Faden wieder auf, «Nahuel und Miro sind sich sehr ähnlich. Sie gehen beide davon aus, dass ihr kleiner Bruder, dessen Feder ja auf der Wiese liegt, niemals einen Teppich finden wird. So nehmen sie die ganze Sache auf die leichte Schulter und strengen sich kein bisschen an, einen besonderen Teppich zu finden.
Nahuel klopft an die Türe eines in der Nähe gelegenen Bauernhauses. Eine Magd öffnet ihm. “Ich brauche einen Teppich“, sagt Nahuel zu ihr.
“Du brauchst was?“
“Einen Teppich. Ich zahle auch einen Golddukaten dafür“, sagt’s und zieht einen Golddukaten aus der Tasche.
Die Magd schaut ihn entgeistert an: “Teppiche haben nur reiche Leute. Meine Herrschaften haben in der guten Stube einen Teppich. Aber ich? Nein! Ich habe nur einen alten Bettvorleger. Aber der ist schäbig. Ihn Teppich zu nenne wäre zu viel des Guten.“
Doch Nahuel besteht darauf, ihr den Bettvorleger als Teppich abzukaufen und mitzunehmen und gibt der verdutzten Magd einen Golddukaten. Die freut sich riesig und plant in Gedanken bereits Hochzeitsvorbereitungen, denn nun hat sie genug Geld, den Stallknecht zu ehelichen.
Auch Miro gibt sich keine grosse Mühe. Er gelangt zu einem Pferdestall, sieht Pferdedecken an Haken hängen, nimmt die erste beste, legt sie sich über die Schulter, nimmt einen Golddukaten aus der Tasche und legt ihn auf das Regal mit den Bürsten und Striegeln und macht sich auf den Heimweg.
Atari sitzt derweilen im kurz geschnittenen Gras und grummelt vor sich hin. Was soll er denn tun? Seine Feder liegt vor ihm und tut keinen Wank. So wird er nie und nimmer einen Teppich finden. Höchstens Käfer und Würmer.
Wie er so vor sich hinbrütet, bemerkt er plötzlich, dass sich da vor ihm eine Falltür befindet. Neugierig öffnet er die Türe. Eine Stiege führt direkt tief in die Erde hinunter. Er betritt die Treppe und steigt hinunter. Unten angelangt steht er erneut vor einer Tür. Er klopft an diese und hört plötzlich Stimmen. Merkwürdige Stimmen. Wie ein Quäken oder Quaken. Er vermeint einen Spruch zu hören: “Jungfer grün und klein, Hutzelbein, Hutzelbeins Hündchen, Hutzel hin und her, lasst geschwind sehen, wer draussen wäre.“
Und schon öffnet sich die Tür. Eine dicke Kröte sitzt vor ihm, und hinter und neben ihr erblickt er bestimmt mehr als ein Dutzend kleinerer Kröten. Die dicke fragt den Prinzen höflich, was er denn hier wüsche.
“Ach“, antwortet Atari mutlos, “ich sollte einen schönen Teppich nach Hause bringen. Den schönsten, hat mein Vater, der König geheissen, aber da bin ich wohl falsch hier bei euch Kröten!“
“Kopf hoch, Atari! Hier bist du genau richtig. Und wir sind Itschen, keine Kröten“, sagt da die dicke Itsche und heisst ihre Töchter, ihr die grosse Schachtel zu bringen. Die dicke Itsche öffnet die Schachtel und zieht einen Teppich heraus, der ist so schön und fein, dass wohl oben auf der Erde wohl keiner so schön gewebt werden kann.
Atari, ganz überrascht, bedankt sich bei der dicken Kröte und steigt die Treppe hinauf und gelangt kurz darauf vors Tor zum Schloss.»
Die Märchenerzählerin verstummte und blickte zum Tor des Schlosses. Alle blickten zum Tor des Schlosses. Just in diesem Moment kamen alle drei Brüder zurück. Jeder mit seinem Teppich.
Der König stand auf. Begutachtete den Bettvorleger, den Nahuel der Magd abgekauft hatte. Dann die Pferdedecke, die Miro aus dem Stall mitgenommen hatte. Zuletzt den edlen, kostbaren Teppich, den Atari ihm vor die Füsse legte.
Der Teppich glänzte im Abendlicht. In sich verschlungene Pflanzenmuster waren in den kostbareren Teppich hineingewebt oder hineingeknüpft.
Da rief Lio laut: «Das sind verschiedenste Heilpflanzen, die ich in den gewebten Zeichnungen des Teppichs erkenne!»
Der König betrachtete den Teppich schweigend und staunend von allen Seiten. Befühlte ihn. Zuletzt erhob er sich und schaute Atari starr an: «Du, mein Jüngster, hast mir den kostbarsten und edelsten Teppich nach Hause gebracht. Wenn es nach Recht zugehen soll, so gebührt dir mein Königreich, wenn ich mich einmal zur Ruhe setze oder nicht mehr da bin.»
Da schrien Nahuel und Miro gleichzeitig auf: «Nein Vater, nein! Wir haben uns doch nur einen Scherz erlaubt! Atari ist viel zu jung und unerfahren! Er kann niemals dein Reich erben!»
Ja, sie bettelten und jammerten und bestürmten den König, bis dieser die Geduld verlor und schrie: «Ruhe jetzt! Ich habe genug! Ich werde mich morgen entscheiden. Doch jetzt weicht mir aus den Augen. Alle drei!», dann wandte er sich den erschrockenen Anwesenden zu, zur Königin, den Prinzessinnen und allen Bediensteten: «Das gilt auch für Euch alle. Ruhe jetzt. Ich will niemanden mehr sehen.»
Darum ist mir so bange, lieber Benjamin. Ich habe stets geglaubt, dass der König besonnen ist und mir allenfalls beistehen könnte, wenn die Königin wahrmacht, was sie mir angedroht hat. Damals, vor einem Jahr. Ja, wer kann mir helfen, wenn es denn zum Schlimmsten kommt?
– 7 –
Der Morgen bricht an. Die Vögel jubilieren, als wenn es Frühling wäre, nicht Herbst. Ich habe kaum ein Auge zugetan, liebe Kathrin. Ich war zu aufgewühlt.
Gibt es etwas Schlimmeres als ein zorniger König, der seinen eigenen Hofstaat in Angst und Schrecken versetzt? Nach dem Gejammer und Gezeter seiner Söhne kann ich zwar verstehen, dass er nur noch eines wollte: Ruhe. Das ist es nicht, was mich entsetzt, sondern die Art und Weise, wie er es anpackte. Er hätte seine Söhne in die Schranken weisen, ihnen Paroli bieten können. Nicht laut schreiend, sondern mit Anstand. Er hätte alle um Ruhe bitten und sich würdevoll zurückziehen können. Aber nein, er hat völlig die Fassung verloren und seine Gäste gemassregelt, die mit der Sache ja wirklich nichts zu tun haben.
Doch am schlimmsten dünkt mich, dass er nicht zu seinem Wort stand. Er war wankelmütig und unentschlossen, ja er schien hilflos. Damit hat er den Respekt verloren und seine Würde. Ein Herrscher muss Stärke zeigen und Entschlossenheit. Sonst wankt das ganze Reich.
Ich bin vorhin die Treppe hinuntergestiegen, die von meiner Schlafkammer in den Trakt des Schlosses führt, wo auch die Küche liegt. Die Küche war mein Ziel. Doch kurz davor habe ich ein Flüstern vernommen. Unter der Treppe gibt es eine Art Besenkammer. Von da her kam das Gewisper.
«Was sollen wir nur tun?», hörte ich die Stimme der Prinzessin Dana, «er hat sich lächerlich gemacht. Ich schäme mich!»
«Du meinst unseren Vater, den König? Es sind auch Nahuel und Miro, die sich dem Spott preisgegeben haben. Ein Bettvorleger und eine Pferdedecke! Ha! Sie haben unseren Vater in allergrösste Verlegenheit gebracht!», das war die sonst so bedächtige Lara.
«Ich schäme mich, ihre Schwester und seine Tochter zu sein!», wiederholte sich Dana.
«Der Schaden ist angerichtet. Wir können hier nichts mehr beschönigen, noch heilen», das war Lara.
«Und die Weisen Frauen?», entgegnete Lahja, die jüngste der Prinzessinnen.
«Die drei Weisen Frauen? Das ist eine gute Idee. Kommt, lasst uns die Weisen Frauen aufsuchen. Diese nächtigen im Gästehaus in der Nähe des Seerosenweihers. Aber seid leise. Damit uns niemand hört und aufhält!», hörte ich Lara erklären.
Auf leisen Sohlen habe ich mich zur Küche geschlichen. Niemand hat gescherzt und gelacht wie sonst üblich. Alle scheinen sie bedrückt. Magdalena hat mir eine Tasse Kaffee gereicht, Lio, der tapfere, ein mit Schokolade gefülltes Croissant und eines mit Nussfüllung. Berta hat mir ein kleines Körbchen gegeben, in welchen ich nun mein Frühstück hierhertrage. Hier, zu meinem Lieblingsplatz ausserhalb der Schlossmauer, dort wo die Wiese jetzt kurzgeschnitten ist, dort, wo, wie ich erst jetzt bemerke, auch Anette sitzt.
«Guten Morgen», sage ich zu ihr. Sie blickt mich freundlich an, nickt mir sachte zu. Ich setze mich neben sie und geniesse meinen Kaffee und teile die beiden Croissants mit ihr.
«Was nur wird der König tun?», frage ich laut. «Die Prinzessinnen jedenfalls sind besorgt. Ich habe sie flüstern hören. Sie schämen sich für ihren Vater und ihre beiden Brüder», ich schüttle den Kopf, «Sie haben recht, die Prinzessinnen, es ist unbegreiflich, wie dumm und unverschämt sich die Brüder benommen haben. Und überheblich. Arrogant!»
Ich werde zunehmend wütender, steigere mich in eine wilde, grimmige Empörung. «Die Brüder haben ihre Chance vertan! So richtig vermasselt! Wie kann man nur so blöd und einfältig sein! Ein Bettvorleger! Eine Pferdedecke! Doch der König hat seine Chance auch vermasselt. Mit Leichtigkeit hätte er die Situation retten können! Warum nur hat er sich von seinen eigenen einfältigen Söhnen ins Bockshorn jagen lassen? Wenn er doch schlicht zu seinem Wort gestanden und Atari als sein Erbe eingesetzt hätte! Was ich bei der ganzen Sache nicht verstehe: Ich vernehme allenthalben, dass die Brüder noch einen älteren Bruder hätten. Doch wo verbleibt dieser? Wurde er verstossen? Ist er unauffindbar?»
Plötzlich bemerke ich, dass Anette neben mir ganz blass ist. Blitzartig verstehe ich.
«Der Verschollene ist dein Gatte!»
Ich grüble. Wen könnte ich nach dem vermissten Prinzen fragen? Berta oder Magdalena? Die Weisen Frauen? Hermes? Und ehe ich den Gedanken zu Ende denke, steht letzterer vor uns, verbeugt sich tief und zieht einen imaginären Hut. Einen grünen Hut mit breiter Krempe, geschmückt mit einem langen Federbusch, so einen sehe ich in meinem Geiste förmlich vor mir.
«Warum so düsteren Mutes, die Damen?», nach einem kurzen Zögern, «Ach, Ihr seid besorgt? Die dummen Jungen. Ich muss Euch zustimmen. Die verdienen eine Tracht Prügel, alle beide. Ha! Mich nimmt wunder, wie sich da der König aus der Schlinge ziehen wird.»
«Die Prinzessinnen fragen bereits die Weisen Frauen um Rat!», wende ich ein.
«Ha, da bin ich mal gespannt. Lustig ist es ja. Ein richtiges Tohuwabohu! Ein Tollhaus!», amüsiert sich Hermes, «Ah, wenn man vom Teufel spricht – verzeiht, verzeiht – ich korrigiere mich – wenn man von den drei Weisen Frauen spricht – da sind sie ja schon. Alle drei treten aus dem Tor des Schlosses. Desgleichen der König und seine drei Söhne. Oder, um genau zu sein, drei seiner Söhne. Drei von Vieren.»
Ich beschliesse augenblicklich, mich später bei Hermes über diesen vierten der Söhne zu erkundigen. Später, ohne die Anwesenheit von Anette. Ich möchte sie nicht noch mehr in Aufregung versetzen.
Inzwischen tritt die kleine Gruppe auf die Wiese. Sie scheinen uns nicht zu bemerken. Oder aber Zuschauer sind ihnen einerlei.
Der König sieht übernächtigt aus. Seine fröhliche Forschheit, sein sonst jugendlicher Elan sind wie weggeblasen. «Meine Söhne», erklärt er mit kraftloser in der Stimme, «derjenige von Euch, der mir den schönsten Ring bringt, der soll mein Reich erben.»
Da tritt die zweite der Weisen Frauen hervor, jene mit dem dicken Daumen. Auch sieh bläst drei Federn in die Luft. Und wie am Abend zuvor fliegt die Feder von Nahuel nach Osten, diejenige von Miro nach Westen und die Feder von Atari hält sich nur kurz in der Luft und gleitet alsbald sachte zu Boden.
Die drei Weisen Weiblein und der König kehren schweigend zum Schloss zurück.
Erst jetzt gewahre ich die drei Prinzessinnen, die sich nicht weit entfernt von uns befinden. Eng aneinandergerückt stehen sie unter einem schmalen, geheimen Durchlass ins Schlossgelände, einem Mauerbogen, der schier zur Unkenntlichkeit von Rosen und Hopfen überwachsen ist. Von dort beobachten sie die erneute Entsendung ihrer Brüder.
«Sie haben uns doch Hilfe versprochen», jammert Dana.
«Ich vertraue den Weisen Frauen. Sie helfen stets, wenn es brenzlig ist», das ist Lahja.
«Ja, wir kennen das Schicksal nicht. Vielleicht vermeinen wir nur, dass es dumm ist, den Brüdern nochmals eine Chance zu geben. Vielleicht ist es aber das Beste!», das war Lara.
Ich stehe auf, nähere mich den dreien «Kommt zu uns», fordere ich sie auf, «leistet uns Gesellschaft!» Keinesfalls möchte ich, dass Atari sich beobachtet und belauscht fühlt.
Ich blicke über die Wiese zu Atari, der am Boden hockt, die Feder in der Hand verwundert betrachtet. Ich sehe nur Stoppeln und abgeschnittene Stängel. Nirgends ist eine Falltür auszumachen. Was, wenn er keinen Ring finden sollte? Seine Brüder sind inzwischen längst in der Ferne verschwunden, einer Richtung Osten, der andere nach Westen.